Unser Gastautor Arne Ulbricht ist Autor diverser Bücher für Kinder und Erwachsene. Kürzlich hat er den Roman „Schilksee 1990“ veröffentlicht, ein sehr lesenswertes Buch über die Jugend damals und heute. Infos zu ihm gibt es auf seiner Website, bei Instagram und Facebook. In seinem Gastbeitrag berichtet er, wie er mit 48 zum Taekwondo zurückgekehrt ist:
Zeitreise in den Oktober 1994: Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, Träger des rotschwarzen Gürtels in Taekwondo und nehme an den „Norddeutschen Meisterschaften“ in der Gewichtsklasse bis 70 Kilo teil. Meinen ersten Gegner ringe ich nieder, meinen zweiten scheuche ich über die Kampffläche, bis er aufgibt. Schon stehe ich im Finale und habe es mit einem Kämpfer aus einem Hamburger Verein zu tun, den ich kenne und der… besser ist als ich. Kurz bevor unser Kampf beginnt, setzt sich gefühlt unser ganzer Verein an die Kampffläche – was für ein Kick! Sind es diese Momente, wegen derer man Kampfsport oder generell Leistungssport macht?
„Arne, du schaffst das!“, sagt mein Coach und sieht mich dabei an, als meine er es ernst.
Ich bin vollkommen unter Strom und kämpfe den Kampf meines Lebens. Ich bin schnell, vor allem mit den Beintechniken zum Kopf, aggressiv und… gewinne!
In den darauffolgenden Jahren nahm ich als Schwarzgurt zweimal an Deutschen Meisterschaften teil, das ist wie erste Bundesliga. Ich flog immer in der ersten Runde raus, einmal hauchdünn, einmal deutlich. (Das wiederum ist ein bisschen wie Abstieg in die zweite Liga.) 1999 verstaute ich dann meinen Taekwondo-Anzug und die Kampfausrüstung in einem Schrank, wo die Sachen verstaubten.
Taekwondo war bis 1999 mein Leben gewesen. Doch nach 1999 wurden andere Dinge wichtig. Ich begann wie ein Besessener Bücher zu schreiben, zog ständig um (von Tübingen nach Paris und wieder zurück, weiter nach Hamburg, nach Berlin und schließlich nach Wuppertal, wo ich auch nicht mehr lange bin), heiratete, wurde zweimal Vater, kümmerte mich um die Kinder, während meine Frau Geld verdiente, nahm sogar mal an einem Marathon teil (den ich fast nicht überlebt hätte), aber auf Vereins- beziehungsweise Kampfsport ließ ich mich selbst dann nicht ein, als mein Sohn mit Taekwondo begann.
Ich wurde älter und schwerer (77kg). Taekwondo vergaß ich aber nie. Immer wieder zuckten meine Muskeln. Oft versuchte ich diese oder jene Technik. Meistens, wenn niemand in der Nähe war. Und dann geschahen plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig! Mein Sohn legte mit 15 seine DAN-Prüfung (= Prüfung zum schwarzen Gurt) ab. Ich hüpfte während der Prüfung aufgeregt wie ein aufgescheuchtes Huhn (genau so, sonst würde ich diese Formulierung nicht nutzen) auf der Tribüne entlang und erzählte einer Trainerin in einer Tour von früher, als ich selbst noch aktiv war.
„Dann fang wieder an! Ganz langsam!“, sagte sie.
Ich schluckte. Ging das? Langsam anfangen? Ich nickte… und fing nicht an. Aber der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Dann durfte ich im Verein meines Sohnes aus meinem Kinderbuch Luna, ein Fliegenpilz im Erdbeerkleid lesen. Luna macht Taekwondo und verprügelt in einer schönen Szene ihren Trainer. Ich selbst sollte auf Wunsch des Trainers im Taekwondo-Anzug lesen. Und ich bin mir vollkommen bewusst, wie kitschig das jetzt klingt: Aber als ich den Anzug überstreife, war ich wieder der zweiundzwanzigjährige Arne. Dieser junge Mann, der einfach nur heiß war aufs Kämpfen. Ich hätte heulen kommen. (Ich glaube, ich hatte auch wirklich feuchte Augen.) Nach der Lesung sagte einer der Trainer:
„So Arne, du musst jetzt aber auch zum Training kommen!“
Wieder nickte ich. Und fragte mich: Soll ich wirklich? Ich war ein Kämpfer! Ich war kein Technikfreak. Den ganzen Technikbereich (also das Trainieren der einzelnen Techniken und das Trainieren von Formen/Choreografien, in denen du diese Techniken zeigst), kannst du üben, bis du im Rollstuhl sitzt. Kämpfen gegen junge Leute, die so schnell sind wie ich es mal war? Ja, gut, man trägt Arm- und Beinschoner, eine Kampfweste und einen Kopfschutz, aber Vollkontakt ist und bleibt Vollkontakt. Als ich jung war, musste ich während eines Turniers zum Beispiel mal ins Krankenhaus, wo meine Lippe genäht wurde. Einer meiner Gegner ist auf einem anderen Turnier doof in meine Technik reingerannt und hat sich den Kiefer gebrochen – das passiert manchmal einfach. Mit zwanzig nimmt man das als Erfahrung mit… Wenn man auf die fünfzig zugeht, denkt man: Bitte nicht verletzen!
Das geht also nicht, dachte ich. Dennoch ging ich zum Training. Zum Techniktraining. Ich glaube, mein Herz raste, als ich zum ersten Mal in der Halle stand.
„Und kommst du morgen auch?“, fragte der Trainer gleich nach dem ersten Training.
Ich lachte.
„Morgen muss ich mich erholen!“
Das war gelogen. Eine ganze Woche musste ich mich erholen, denn ich spürte jeden Muskel und jede Sehne, als hätte jemand mit Absicht daran gezogen. Am Anfang tat immer alles weh. Dann wurde es besser … und ich wagte es, ins Kampftraining zu gehen. WAHNSINN!!! Was für ein Gefühl!!! Ich hatte damals einige Spezialtechniken, die ich jetzt, nach einem Jahr, wieder hinbekomme. Im Gegensatz zu damals in Zeitlupe, aber immerhin. Und mein Sohn und ich haben ein Vater-Sohn-Ding daraus gemacht. Wie toll ist das denn? Wir haben auch schon gegeneinander gekämpft. Ich mit meiner Erfahrung, die einfach da ist, er mit seinem durchtrainierten Körper. Am Ende wird es immer so eine Art Unentschieden – allerdings tut ihm anschließend nie etwas weh.
Nun mache ich also wieder Taekwondo! Wollte ich mir damit eigentlich etwas beweisen? Wollte ich mir und allen anderen zeigen: Mit 48 ist man noch nicht zu alt? Selbst für einen Vollkontaktsport nicht? Mit 48 hält man Tritte und Schläge aus? Man trifft auch mal? Befinde ich mich mitten in einer Midlifecrisis, in der man dem Jungsein hinterhertrauert und Angst hat, dass das Leben fast schon vorbei ist? Sollte das der Fall sein, ist das gut so! Denn dann habe ich dank der Midlifecrisis entdeckt, wie viel noch in meinem „alten“ Körper steckt! Und inzwischen habe ich mich auch zum ersten Mal verletzt. Jemand hat seine Faust versehentlich in meinem Rücken versenkt. Ein paar Tage lang konnte ich nicht auf der Seite schlafen. Langsam zieht sich der Schmerz zurück, bald trainiere ich wieder. (Mit zwanzig wäre ich einen Tag später wieder zum Training gegangen.)
Auch der siebzehnjährige Held meines neuen Romans Schilksee 1990 ist leidenschaftlicher Kämpfer. Er nimmt an einem Turnier teil, wenige Tage nach der Wiedervereinigung. Er ist vollkommen verkatert. Das Kapitel hat übrigens einen autobiografischen Kern. Ich selbst kam damals ins Finale. Heute denke ich: Für Taekwondo muss ich ausgeschlafen und nüchtern sein… nach einer Party geht gar nichts mehr.
Oder vielleicht doch?
Lieber Arne, vielen Dank für diese inspirierende Geschichte. Weitere spannende Stories rund um Fitness und Motivation gibt es zum Beispiel von Mike und Marco.