HomeKULTURLiteraturBuchtipp: "Keine Zeit für irgendwann" - 10.000 Kilometer auf zwei Rädern

Buchtipp: „Keine Zeit für irgendwann“ – 10.000 Kilometer auf zwei Rädern

Es gibt diesen Moment im Leben, in dem sich alles verändert. Für Tom Friho war es sein letzter Arbeitstag nach vier Jahrzehnten im Bankenwesen. Während die Kollegen beim Abschiedsessen noch über seine Pläne staunten, stand seine schwer bepackte BMW bereits abfahrtbereit in der Toreinfahrt. Am nächsten Morgen, als frischgebackener Rentner, startet er zu einer Tour, die ihn 10.000 Kilometer durch Europa führen sollte. Ganz allein, ohne feste Reservierungen, nur mit dem Plan, einmal rund um die iberische Halbinsel zu fahren.

„Keine Zeit für irgendwann“ ist die Geschichte dieser Reise. Und es ist mehr als ein Reisebericht. Es ist das Protokoll eines Übergangs, den wir alle irgendwann durchleben werden: Vom strukturierten Arbeitsleben in einen Lebensabschnitt, der plötzlich keine festen Vorgaben mehr hat.

Wenn das Hamsterrad stoppt

Friho beschreibt seine letzten Nacht vor dem Ruhestand mit schonungsloser Ehrlichkeit: „Seit Stunden liege ich bereits wach. Die Gedanken an die letzten vierzig Jahre gingen mir während der Nacht ebenso durch den Kopf wie die Gedanken an die Zukunft.“ Vierzig Jahre lang hatte er fünfzig bis sechzig Stunden pro Woche gearbeitet, Urlaubstage verfallen lassen, nur zwanzig Tage krank gefeiert. Jetzt, mit gut sechzig Jahren, stellt sich die Frage: Was kommt nach dem Stress, nach dem Adrenalin, an das man sich gewöhnt hat?

Es ist eine Frage, die viele Männer zwischen in der zweiten Berufshälfte umtreibt, auch wenn der Ruhestand vielleicht noch Jahre entfernt scheint. Was bleibt, wenn die Identität über den Beruf wegfällt? Wie vermeidet man die Depression, die Friho bei vielen anderen beobachtet hat, „die sich nach mehreren Wochen zu Hause wieder eine neue, regelmäßige Tätigkeit suchen“?

Seine Antwort ist radikal: Abstand gewinnen. Sich selbst beweisen, für verrückte Ideen noch nicht zu alt zu sein. Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt.

Die Inspiration vom Jakobsweg

Die Idee zur Motorradtour entstand durch Bücher über Menschen, die den Jakobsweg gelaufen waren. „Ihre Motive, das zu tun, waren unterschiedlich. Doch in einem sind sich alle einig: Die starken Emotionen auf diesem Weg haben sie verändert“, schreibt Friho. Nur: Wandern ist nicht sein Ding. Also wählt er seine eigene Variante: Das Motorrad als Pilgergefährt, die Küsten Europas als Route, die Begegnungen unterwegs als Seelenbalsam.

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© 25snn (Unsplash)

Die Strecke klingt ambitioniert: Von Berlin über die Nordseeküste, entlang Niederlande, Belgien, Frankreich bis nach Brest, dann südwärts über den Atlantik nach Santiago de Compostela, weiter nach Porto, Lissabon, die Algarve, Gibraltar, die spanische Mittelmeerküste bis Barcelona, ein Abstecher nach Andorra und schließlich durch die Schweiz zurück nach Deutschland. Etwa 7.000 Kilometer „immer am Meer entlang, das Wasser an der rechten Schulter.“

Unterwegs mit 500 Kilogramm

Friho fährt eine schwere BMW-Reisemaschine mit Sechszylinder-Motor – vollgetankt und beladen bringt sie 350 Kilogramm auf die Waage, ohne Fahrer. In den beiden Seitenkoffern und dem Topcase verstaut er Kleidung für eine Woche, Regenkombi, Protektoren, und alles, was er auf dem Motorrad braucht. Das Smartphone ist sein Allzweckwerkzeug: Kamera, Navigationssystem, Reisetagebuch, Buchungstool für Unterkünfte. Nur eines nimmt er nicht mit: ein Zelt. „Aus dem Alter bin ich raus“, kommentiert er trocken.

Die Lektüre macht deutlich: So eine Tour braucht Zeit. Acht Wochen war Friho unterwegs, manchmal lange Etappen fahrend, manchmal nur kurze Strecken, um sich treiben zu lassen. Das ist Luxus, den man sich im Arbeitsleben selten leisten kann. Aber genau darum geht es: sich die Zeit zu nehmen, die man sich jahrzehntelang nicht nehmen konnte.

Zwischen Euphorie und Einsamkeit

Was das Buch besonders macht, ist Frihos Ehrlichkeit über die emotionalen Hochs und Tiefs. Da sind die großartigen Momente: die Fahrt durch die Sierra Nevada, das erste Mal Afrika am Horizont zu sehen, die Begegnung mit einem schottischen Motorradfahrer in den spanischen Bergen, der eine noch verrücktere Tour plant. Und es gibt die schwierigen Momente: die Einsamkeit beim Abendessen, wenn rundherum Pärchen sitzen. Die Sehnsucht nach Barbara, seiner Frau, mit der er Erlebnisse normalerweise teilt.

„Ich bin von Menschen umgeben, die Glück und Nähe ausstrahlen, während ich selbst jedoch isoliert bleibe“, schreibt er an einem Abend in Málaga. Es ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Tour: Freiheit und Unabhängigkeit haben ihren Preis. Nicht jeder ist für das Alleinreisen gemacht und das ist völlig in Ordnung.

Gleichzeitig beschreibt Friho die besondere Solidarität unter Motorradfahrern, das ungeschriebene Gesetz des Zusammenhalts. Immer wieder wird er angesprochen, bekommt Tipps, teilt Benzingespräche. Das Motorrad ist ein Türöffner für Begegnungen, die man als Autofahrer nie hätte.

Was Europa lehrt

Je weiter Friho nach Süden kommt, desto deutlicher werden die Kontraste. Er sieht Armut in spanischen Bergdörfern, wo Jugendliche vor verwahrlosten Spielhallen abhängen. Er erlebt die Tristesse von Orten, „in denen niemand etwas tut – nicht säubert, nicht aufräumt, nichts repariert“. Und er beginnt zu verstehen, wie privilegiert sein Leben in Deutschland war und ist.

„Wir haben alle eine Waschmaschine und auch Fuß- und Radwege. Überhaupt: Je mehr ich von den Städten sehe, desto schöner, reicher und komfortabler wird mein Leben in Berlin“, notiert er. Es ist keine nationalistische Überheblichkeit, sondern die Dankbarkeit eines Mannes, der das Glück hatte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren zu sein – „wie ein Lottogewinn“.

Besonders berührend ist die Begegnung mit einer alten Französin, deren Eltern im Zweiten Weltkrieg von Deutschen getötet wurden. Sie kann ihm nicht ins Gesicht sehen. „Die Deutschen sind noch heute in den Augen vieler als Verbrecher und Nazis gezeichnet“, reflektiert Friho. Die Geschichte lebt weiter, ob wir wollen oder nicht.

Praktisch gedacht

Wer nach konkreten Reisetipps sucht, findet sie zwischen den Zeilen: Friho beschreibt, wie er täglich gegen 16 Uhr nach Unterkünften sucht, immer online auf entsprechenden Plattformen. Er wäscht seine Kleidung in Waschsalons, die in Südeuropa deutlich verbreiteter sind als in Deutschland. Er nutzt Hörbücher gegen die Monotonie langer Autobahnstrecken – Michelle Obama und Fitzek-Thriller sind seine Begleiter.

Die Kosten? Friho bleibt vage, aber zwischen den Zeilen lässt sich ablesen: Es ist kein Billigtrip. Hotels, Benzin, Verpflegung – acht Wochen unterwegs sein kostet. Aber es ist möglich, bescheiden zu übernachten. Die schönsten Momente sind ohnehin die, die nichts kosten: der Sonnenuntergang über dem Atlantik, das Bad im eiskalten Meer, die Begegnung mit dem portugiesischen Schäfer und seinen Australian Shepherds.

Ein Buch für Träumer

„Keine Zeit für irgendwann“ ist keine Anleitung zum Glück und kein Ratgeber für die perfekte Motorradtour. Es ist das authentische Protokoll eines Mannes, der den Mut hatte, seine Komfortzone zu verlassen. Manchmal schweift Friho ab, verliert sich in Details über Stadtgeschichte oder maritime Bauwerke. Manchmal wünscht man sich mehr Tiefe bei der Selbstreflexion. Aber genau das macht das Buch auch sympathisch: Es ist kein polierter Selbstoptimierungs-Ratgeber, sondern ein ehrliches Tagebuch.

Die zentrale Botschaft: Es ist nie zu spät für verrückte Ideen. Man muss sie nur umsetzen – und zwar jetzt, nicht irgendwann. Denn „irgendwann“ hat die unangenehme Eigenschaft, nie zu kommen.

Für wen lohnt sich dieses Buch?

Dieses Buch ist für Männer, die spüren, dass das Leben mehr sein muss als Arbeit und Routine. Für alle, die sich fragen, was nach dem Berufsleben kommt. Oder für die, die einfach zwischendurch ausbrechen wollen, bevor die Rente beginnt. Es ist für Motorradfahrer, die von großen Touren träumen, aber auch für jeden, der verstehen will, warum manche Menschen aufbrechen müssen, um anzukommen.

Man muss nicht selbst Biker sein, um sich von Frihos Reise inspirieren zu lassen. Die Frage, die er stellt, gilt für uns alle: Wann, wenn nicht jetzt? Welche Träume verschieben wir auf „später“, obwohl wir wissen, dass dieses „später“ vielleicht nie kommt?

Tom Friho hat seine Antwort gefunden. Auf 10.000 Kilometern, irgendwo zwischen Berlin und Gibraltar, zwischen Einsamkeit und Freiheit, zwischen Angst und Euphorie. Und am Ende weiß er: „Nach der Reise ist vor der Reise.“

Das ist vielleicht die schönste Erkenntnis überhaupt.

Eckdaten zum Buch

  • Titel: Keine Zeit für irgendwann
  • Verlag: R.G.Fischer Verlag GmbH
  • Preis: 14,90 Euro
  • Seiten: 204
  • ISBN: 9783830193913
  • Erscheinungstermin: 28. April 2025
Kai Bösel
Kai Bösel
Kai Bösel (Jg. 1971) lebt als Patchwork-Papa mit der Familie in Hamburg. Neben NOT TOO OLD betreibt er auch das Väter-Magazin Daddylicious. Außerdem ist er Experte für Influencer-Marketing. Bisher hat er bereits fünf eigene Unternehmen gegründet, schreibt für diverse Print- und Online-Magazine, tritt als Speaker und Moderator auf und betreibt zu diesem Magazin auch einen Podcast. Nach Feierabend entspannt er beim Laufen oder Golf.

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