Ein Beitrag von Leonie Grandpierre
„Die sind doch zu langsam für die heutige Arbeitswelt“ ist ein Vorurteil, das in deutschen Unternehmen noch immer weit verbreitet ist. Dabei könnte es aus neurologischer Sicht kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein. Tatsächlich bringt das reifere Gehirn einige Besonderheiten mit sich, die jüngeren Kollegen verschlossen bleiben. Es ist also an der Zeit, mit Vorurteilen aufzuräumen und einen wissenschaftlichen Blick auf die Fakten zu werfen.
Mythos: abnehmende Leistungsfähigkeit im Alter
Ein Vorurteil, das viele kennen dürften, ist die Aussage, dass das Gehirn mit zunehmendem Alter an Leistung abbaut. Eine geringere Auffassungsgabe und schlechtere Informationsverarbeitung werden dabei oft als Argumente hervorgebracht. Grundlegend stimmt das auch. Doch das Ausmaß und die Geschwindigkeit des kognitiven Abbaus werden massiv überschätzt. Im Berufsalltag sind sie, wenn überhaupt, nur minimal wahrnehmbar oder hängen mit Krankheiten wie Demenz zusammen. Normale Alterungsprozesse bringen dagegen einige unerwartete Vorteile mit sich.
Zwei unterschiedliche Arten von Intelligenz
Zunächst ein kleiner Exkurs in die Intelligenzforschung. Dort unterscheidet man zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Intelligenz:
Fluide Intelligenz: Diese umfasst logisches Denken, Problemlösung, Mustererkennung und Anpassungsfähigkeit. Die fluide Intelligenz nimmt mit steigendem Alter ab, wenn auch nicht in dramatischer Form.
Kristalline Intelligenz: Sie beinhaltet explizites Wissen, erworbene Fähigkeiten und Erfahrungswissen. Im Gegensatz zur fluiden Intelligenz steigt sie im Alter und spiegelt den Wert eines reifen Gehirns wider.
Die neurologischen Vorteile des reifen Gehirns
Während manche Gehirnregionen im Alter abbauen, bleiben zentrale Verbindungen zwischen dem anterioren cingulären Cortex und dem präfrontalen Cortex weitestgehend erhalten. Diese Verbindung hilft dabei, die Emotionsregulierung stabil zu halten. Auf einer neurologischen Ebene bedeutet das, dass ältere Menschen stärker darin sind, Emotionen zu kontrollieren und besonnen mit Stresssituationen umzugehen.
Einige Studien zeigen außerdem, dass bei einem Teil älterer Erwachsener, insbesondere im präfrontalen Kortex (zuständig u. a. für Aufmerksamkeit, Planung und Problemlösen), die Aktivität beider Gehirnhälften stärker miteinander verknüpft ist (bilaterale Aktivierung). Forschende interpretieren dies als möglichen Kompensationsmechanismus, der den altersbedingten kognitiven Abbau teilweise ausgleichen kann. Dieser Effekt tritt jedoch nicht bei allen Menschen und nicht in allen Hirnregionen auf. Über die Jahre hinweg baut das Gehirn außerdem einen riesigen Speicher an erlebten Situationen auf, die als Erfahrungswissen gespeichert und in passenden Situationen abgerufen werden können.
Konkrete Stärken im Berufsalltag
Die neurologischen Vorteile, die das reifere Gehirn mit sich bringt, lassen sich in konkrete Stärken im beruflichen Alltag übersetzen. Das ist einmal die Gelassenheit in Krisensituationen. Grund dafür ist die bessere Emotionsregulierung. Während jüngere Kollegen bei Zeitdruck oder unerwarteten Problemen schonmal den Kopf verlieren, bleiben die Älteren gelassener. Das macht sie zu zuverlässigen Ansprechpartnern in außergewöhnlichen Situationen.
Das über Jahre angesammelte Erfahrungswissen, ist ein weiterer Vorteil, der sich direkt in eine bessere Arbeitsleistung übersetzen lässt. Dieses Wissen hilft dabei, bekannte Muster in vermeintlich neuen Situationen zu erkennen. Im Gegensatz zu jüngeren Kollegen, denen die Erfahrung fehlt, erkennen Ältere Parallelen zu früheren Gegebenheiten. Das bringt sie in die wertvolle Lage, die korrekten Schlüsse zu ziehen und Fehler zu vermeiden, die in der Vergangenheit bereits begangen wurden.

Die Priorisierung unter Zeitdruck ist eine weitere Stärke, die ältere Mitarbeiter auszeichnet und sie unter anderem auch für Führungspositionen prädestiniert. Denn während junge Kollegen eher den Blick für das Wesentliche verlieren, hilft kristalline Intelligenz Menschen über 50 dabei, Situationen schnell zu bewerten und zu filtern, welche Entscheidungen wirklich geschäftskritisch sind.
Die kristalline Intelligenz macht ältere Mitarbeiter außerdem zu prädestinierten Mentoren. Sie können komplexe Zusammenhänge erklären, Wissen strukturiert weitergeben und jüngere Kollegen mit ihrer Erfahrung unterstützen. Sei es in klassischen Mentoringprogrammen oder Peer-Learning-Formaten, das gesammelte Wissen ist äußerst wertvoll, daher sollte es dokumentiert und weitergegeben werden.
Was Menschen über 50 für sich tun können
Menschen über 50 sollten sich bewusst machen, dass sich ihr Gehirn nicht verschlechtert hat, sondern ganz einfach entwickelt. Die Fähigkeit zur Emotionsregulierung, das umfangreiche Erfahrungswissen und die bessere Erkennung von Mustern sind wertvolle Ressourcen, die einem den Arbeitsalltag erleichtern können. Statt sich auf Schwächen zu fokussieren, lohnt es sich, diese Stärken zu kultivieren. Das kann etwa so aussehen, dass ältere Mitarbeiter häufiger die Stimme erheben, wenn Erfahrung gefragt ist, oder sich aktiv als Mentor anbieten.
Altersstereotype existieren oft auch im eigenen Kopf. Wer sich einredet, zu alt oder zu langsam zu sein, sabotiert sich selbst und verschenkt wertvolle Potentiale. Die Neurowissenschaft zeigt, dass diese Selbstzweifel meist unbegründet sind. Vielmehr geht es darum, die eigene Kompetenz selbstbewusst zu kommunizieren. Also etwa bei Bewerbungen, die jahrzehntelange Erfahrung als Plus verkaufen, nicht als mögliches Minus.

Ein anderes Thema ist Weiterbildung. Die ist auch jenseits der 50 sinnvoll und möglich. Allerdings funktioniert Lernen im Alter anders als mit 25, und das ist auch gut so. Erfahrene Menschen profitieren von Formaten, die an vorhandenes Wissen anknüpfen und praktische Relevanz haben. Statt abstrakte Theorien zu pauken, funktioniert Lernen besser, wenn neue Inhalte mit bereits bekannten Konzepten verknüpft werden können. Auch der soziale Aspekt wird wichtiger. So kann ein Erfahrungsaustausch mit Gleichgesinnten, Diskussionen über praktische Anwendungen und die Möglichkeit, das eigene Wissen gleichzeitig weiterzugeben, Lernprozesse effektiver machen.
Die Zukunft ist altersdivers
Mitarbeiter jenseits der 50 sind ein wichtiger Bestandteil eines jeden Unternehmens und helfen dabei eine gesunde Teamchemie zu kultivieren. Emotionale Stabilität, Erfahrungswissen und die Fähigkeit zur Mustererkennung sind keine Relikte vergangener Zeiten, sondern so wichtig wie eh und jeh.
Mitarbeiter im fortgeschrittenen Alter bringen neurologische Vorteile mit, die in stressigen Zeiten Gold wert sind. Unternehmen, die das erkennen und nutzen, verschaffen sich einen echten Wettbewerbsvorteil.
Über die Autorin
Leonie Grandpierre verbindet psychologisches Know-how mit Innovationsgeist: Nach Stationen in der Neurowissenschaft und HR-Tech entwickelte sie spielbasierte Diagnostik-Tools für eine faire, zukunftsorientierte Personalauswahl. Heute begleitet sie als Senior Behavioral Scientist bei CoachHub Unternehmen dabei, Coaching gezielt als strategisches Transformationsinstrument einzusetzen.

Weitere spannende Einblicke in das Gehirn liefert unsere Podcast-Folge 58 mit Dr. Volker Busch.